Bürgerliche versuchen, kantonale Mindestlöhne durch die Hintertür zu umgehen

Eine Motion von Mitte-Ständerat Erich Ettlin will kantonale Mindestlöhne umgehen. Unterstützt wird diese von der bürgerlichen Mehrheit in den zuständigen Kommissionen von National- und Ständerat. Die Motion ignoriert die Rechtsprechung des Bundesgerichts und die Ablehnung durch den Bundesrat, um Löhne für Angestellte in Branchen wie Gastronomie, Verkauf und Reinigung tief zu halten.

(KEYSTONE/Christian Beutler)

In den Kantonen Neuenburg, Genf, Basel-Stadt, Jura und im Tessin hat eine Mehrheit der Stimmbevölkerung Ja zu einem kantonalen Mindestlohn gesagt. Mittels einer Motion will Mitte-Ständerat Erich Ettlin den Volkswillen ausser Kraft setzen. Die Motion fordert, kantonal erlassene Mindestlöhne allgemeinverbindlichen Gesamtarbeitsverträgen unterzuordnen, falls diese tiefere Löhne vorsehen. Eine Annahme der Motion läuft dem eigentlichen Zweck der Mindestlöhne fundamental entgegen und widerspricht der aktuellen Rechtsprechung des Bundesgerichts. Nach der Abstimmung in Neuenburg wurde versucht, die Einführung des Mindestlohns auf juristischem Weg zu verhindern. Das Bundesgericht  hat in seinem Urteil vom 21. Juli 2017 ausdrücklich festgehalten, dass Kantone Mindestlöhne als sozialpolitische Massnahme erlassen dürfen.

Föderalismus, Sozialpartnerschaft und Arbeitsrecht

Die Mitte-Motion macht geltend, dass kantonale Mindestlöhne die sozialpartnerschaftlichen Abmachungen und die allgemeinverbindlichen GAV gefährden. Dabei blendet der Vorstoss allerdings aus, dass allgemeinverbindliche GAV keine Mindestlöhne voraussetzen dürfen, die kantonale oder nationale Regelungen unterschreiten. Die bürgerlichen Mehrheiten in den zuständigen Kommissionen des Ständerats und Nationalrats haben der Motion bereits zugestimmt – entgegen der Empfehlung des Bundesrats, der die Motion ablehnt. Kritik folgt auch von Linken und Gewerkschaften. Arbeitsrechtliche und sozialpartnerschaftliche Regelungen ergänzen sich üblicherweise. Das ist beispielsweise beim Vaterschaftsurlaub der Fall oder auch bei der Arbeitszeit. Hier ist undenkbar, dass ein GAV die neu eigeführten zwei Wochen Vaterschaftsurlaub auf eine Woche reduziert und diese Regelung Vorrang hätte. Damit greift die Motion direkt in die kantonale Autonomie ein und stellt den Föderalismus in Frage. Dies mit verheerenden Folgen für die Arbeiter:innen in Tieflohnbranchen.

Steigende Inflation und stagnierende Löhne

Der Zeitpunkt dieser Motion dürfte ebenfalls Fragen aufwerfen. Die Preise steigen, die Prämien explodieren. Dies trifft die tiefen Einkommen bereits vor dieser Krise am härtesten. Werden die Mindestlöhne ausgehebelt und in Tieflohnbranchen unterboten, dürfte die Teuerung für diese Einkommen noch stärker spürbar sein.

Das ist ein allgemeinverbindlicher Gesamtarbeitsvertrag (ave GAV)
Ein Gesamtarbeitsvertrag (GAV) ist eine Vereinbarung zwischen einem Arbeitgeber und der Gewerkschaft, welche die Angestellten im Betrieb vertritt. Er regelt die Mindest-Arbeitsbedingungen, wie Lohn oder Arbeitszeit. Soll ein GAV nicht nur für einen Betrieb gelten, etwa um gleich lange Spiesse für alle zu schaffen oder Tieflöhne und Lohndumping zu verhindern, können Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände beim Bundesrat eine sogenannte Allgemeinverbindlicherklärung beantragen. Dazu müssen gewisse Kriterien erfüllt sein. Beispielsweise müssen mindestens 50 Prozent der Unternehmen in einem Arbeitgeberverband organisiert sein. Erhält ein GAV die Allgemeinverbindlicherklärung, gilt er für eine bestimmte Zeit für alle Angestellten und Arbeitgeber einer Branche oder Region sowie für ausländische Dienstleistende in der Schweiz. Grosse allgemeinverbindliche GAV gibt es beispielsweise in der Gastronomie oder dem Bauhauptgewerbe.

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