Rentendebakel: Wie Milliardengewinne der Finanzindustrie die Versicherten schädigen

Der Journalist Danny Schlumpf hat das System der 2. Säule genauer angeschaut. Im Gespräch mit «direkt» spricht er über sein Buch «Rentendebakel» und darüber, weshalb bei künftigen Reformen nicht die Versicherten den Gürtel enger schnallen sollten, sondern es massgebliche Veränderungen des Systems braucht.

Danny Schlumpf ist Bundeshausredaktor des SonntagsBlick. Zuvor hat er drei Jahre lang als Wirtschaftsredaktor bei derselben Zeitung gearbeitet und unter anderem über Finanzen, Energie und Gesundheit geschrieben. Gemeinsam mit Mario Nottaris, Inlandredaktor bei SRF, hat er das Buch «Rentendebakel – wie Politik und Finanzindustrie unsere Renten verspielen» geschrieben. Wir haben mit Ihm über sein Buch und die aktuelle Debatte rund um die BVG-Reform gesprochen.

Herr Schlumpf, der Titel Ihres Buches lautet «Rentendebakel». Was genau ist das Debakel?

Danny Schlumpf: Ein Debakel ist es aus Sicht der Versicherten. Sie sind seit 1985 zur Einzahlung in die zweite Säule gezwungen, können aber ihre Pensionskasse nicht frei wählen. Diesem Zwang gegenüber stehen grosse Freiheiten der Finanzindustrie bei der Verwaltung des Versichertenvermögens. Das Problem ist, dass es kapitalistische Unternehmen sind, für die Profite im Zentrum stehen. In einem freien Markt ist dagegen überhaupt nichts einzuwenden. Aber die zweite Säule ist kein freier Markt, jedenfalls nicht aus Sicht der Zwangsversicherten.

Das Vorsorgevermögen in der Schweiz steigt, die Renten aber sinken. Wohin fliesst denn das ganze Geld?

Danny Schlumpf: Früher waren Betriebspensionskassen die Normalität. Sie verwalteten das Vorsorgegeld der Mitarbeiter selber. Die Gewinne blieben in den Betriebspensionskassen und damit bei den Versicherten. Heute sind die meisten Firmen zusammen mit vielen anderen an eine grosse Vorsorgeeinrichtung, eine Gemeinschafts- oder Sammelstiftung, angeschlossen. Diese Vorsorgeeinrichtungen lagern Buchhaltung, Administration, Marketing, Vermögensverwaltung und andere Aufgaben aus – an Finanzdienstleister, unter deren Kontrolle sie oft gleichzeitig stehen. Die Gewinne landen bei den Finanzdienstleistern.

Sie sprechen von milliardenschweren Geschäften, von offenen und verdeckten Vermögenswerten und PK-Skandalen. Haben Sie die Hoffnung oder die Erwartung, dass ihr Buch zu mehr Transparenz in der Finanzindustrie beitragen kann?

Danny Schlumpf: Das hängt davon ab, ob die Politik darauf reagiert. Denn es ist ihre Aufgabe, die Regeln festzulegen. Transparenz wäre eine wichtige Voraussetzung für Verbesserungen. Aber es gibt da auch ein fundamentales Problem: Viele Politikerinnen und Politiker, die diese Transparenz schaffen müssten, sind selber Teil des Systems – als Stiftungsräte, Revisoren, Präsidenten von Anlagestiftungen oder Verwaltungsräte von Versicherungen und Banken. Sie haben kein Interesse daran, dass sich dieses System ändert.

«Viele Politikerinnen und Politiker, die diese Transparenz schaffen müssten, sind selber Teil des Systems – als Stiftungsräte, Revisoren, Präsidenten von Anlagestiftungen oder Verwaltungsräte von Versicherungen und Banken. Sie haben kein Interesse daran, dass sich dieses System ändert.»

Also haben wir wenig Chancen auf Verbesserungen? 

Danny Schlumpf: Nicht unbedingt. Die Mehrheit der Parlamentarier ist nicht selbst aktiv in diesem System. Das hat allerdings zur Folge, dass sie weniger gut informiert sind als ihre Kolleginnen und Kollegen, die Verbindungen zum Pensionskassenmarkt haben. Und wer besser informiert ist, hat in der Regel auch die Deutungshoheit. Darum ist Information zentral. Das gilt gerade für linke Parlamentarierinnen und Parlamentarier, die sich viel lieber mit der AHV als mit den Pensionskassen befassen.

Was schlagen Sie denn vor?

Danny Schlumpf: Das System ist ungenügend reguliert. Die Gesetzgebung hinkt der Entwicklung um Jahre hinterher. Sodann braucht es eine stärkere und effizientere Aufsichtsbehörde. Und es braucht mehr Transparenz. Die Finanzindustrie muss alle Kosten zulasten der Versicherten offenlegen. Es ist immer wieder von Transparenz die Rede, aber das ist ein Feigenblatt. Es gibt ganz viele Kosten, die nicht offengelegt werden. Das Parlament sollte die Finanzindustrie zu dieser Transparenz zwingen.

Das sind bereits drei konkrete Punkte. Was braucht es noch? 

Danny Schlumpf: Das Parlament sollte den Finanzunternehmen vorschreiben, den obligatorischen Teil unseres Vorsorgevermögens passiv anzulegen. Das sind zwei Drittel des ganzen Topfs. Heute legen die Finanzhäuser unser Geld mehrheitlich aktiv an. Das heisst: Sie beobachten die Märkte, analysieren, recherchieren und kreieren ständig neue Anlagelösungen. Dieser Aufwand kostet, er bringt den Finanzunternehmen Einnahmen in Form satter Gebühren ein. Die Vermögensverwalter sagen, dass sie damit die beste Rendite erzielen würden. Geld kann aber auch passiv investiert werden. Dann folgt es den Märkten: Geht es der Wirtschaft gut, steigt es; wenn die Märkte sinken, sinkt es mit. Diese Form des Anlegens ist viel weniger aufwändig und generiert viel weniger Kosten.

Das haben sie in ihrem Buch genauer untersucht. Was wäre der Vorteil von diesem passiven Geldanlegen für die Vorsorgeversicherten? 

Danny Schlumpf: Hätte die Finanzindustrie unser Vorsorgegeld seit 1985 nicht mehrheitlich aktiv, sondern konsequent passiv mit einem Aktienanteil von 40 Prozent angelegt, würden heute nicht 1200 Milliarden im Vorsorgetopf liegen, sondern 1400 Milliarden. Mit einer etwas riskanteren Strategie wären es 1600 Milliarden geworden. Dieses Geld haben wir aber nicht, weil die Finanzunternehmen es mehrheitlich aktiv angelegt haben und das immer noch tun, weil es hohe Gebühren generiert.

Fallen diese Gebühren so ins Gewicht? 

Danny Schlumpf: Wir sprechen insgesamt von rund 20 Milliarden Franken Gebühren pro Jahr, die die Vorsorgeversicherten bezahlen. Und davon, dass ihnen seit 1985 viele Milliarden entgangen sind. Da geht es um Prozesse, die die Versicherten kaum mitkriegen, die ihnen aber tiefere Renten bescheren.  Eigentlich müsste das Parlament vor allem darüber diskutieren. Stattdessen dreht sich alles um die Frage, welche Versicherten künftig Abstriche in welcher Höhe machen müssen.

«Wir sprechen insgesamt von rund 20 Milliarden Franken Gebühren pro Jahr, die die Vorsorgeversicherten bezahlen. Und davon, dass ihnen seit 1985 viele Milliarden entgangen sind. Da geht es um Prozesse, die die Versicherten kaum mitkriegen, die ihnen aber tiefere Renten bescheren.»

Im Grundsatz bedeutet das: Die Debatte um Jung gegen Alt, Männer gegen Frauen – es ist eine Scheindiskussion und eigentlich ist es die Finanzindustrie gegen die Versicherten?

Danny Schlumpf: Scheindiskussion klingt etwas harmlos. Für die Versicherten hat die Debatte im Parlament ja knallharte Konsequenzen. Es muss darum gehen, den Blick zu weiten. Natürlich gefällt das der Lobby von Banken und Versicherungen im Parlament nicht, aber die Frage muss lauten: Warum diskutieren wir nur über Massnahmen, die den Versicherten an die Nieren gehen?

Was würden Sie den Politiker:innen raten?

Danny Schlumpf: Der Hinweis auf die starke Finanzlobby als Entschuldigung dafür, dass sich nichts ändert, scheint mir zu schwach. Politikerinnen und Politiker, die nicht Teil dieses Systems sind, sollten sich damit beschäftigen. Sie sind die Interessenvertreterinnen und Interessenvertreter der 4.4 Millionen Pensionskassen-Versicherten in der Schweiz. Sie haben ihnen gegenüber eine Verantwortung, auch Themen aufs Tapet zu bringen, die der Finanzindustrie nicht gefallen: Aufsicht, Transparenz und eine Anlagestrategie im Sinne der Versicherten. Sie haben jetzt die Gelegenheit, solche Dinge anzustossen. Denn im Dezember wählt das Parlament nicht nur zwei neue Bundesratsmitglieder – es diskutiert auch über die Zukunft unserer Pensionskassen.

Mehr zum diskutierten Buch gibt es auf www.rentendebakel.ch

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